„Mitarbeiter verlassen nicht ihre Firma, sondern ihren Chef.“
Mühlhausen. Der Fachkräftemangel ist Thema in Betrieben landauf und landab. Könnten die Unternehmen alle offenen Stellen besetzen, würde die Wirtschaft in Deutschland deutlich stärker wachsen. Das geht aus einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft hervor. Es fehlen etwa 440 000 Fachkräfte. Die oft erfolglose Suche nach qualifizierten Mitarbeitern sei ein wichtiger Grund für niedrige Unternehmensinvestitionen und überlastete Kapazitäten.
Die Mühlhäuserin Anja Häßler ist Expertin für Führung und Teamentwicklung und berät täglich Unternehmen in Fragen der Mitarbeiterbindung und Mitarbeiterentwicklung. Sie sagt, teilweise ist das Problem hausgemacht. Unsere Zeitung sprach mit ihr über die Möglichkeiten, die Arbeitgeber nutzen sollten, um ihr Personal zu halten und vor allem weiterzuentwickeln.
Frau Häßler, sind die Unternehmen selbst schuld, wenn sie gutes Personal verlieren?
Das klingt sehr hart und ich behaupte, dass Unternehmen auch ihren Anteil daran haben. Oftmals verlassen Mitarbeiter nicht ihr Unternehmen, sondern sie verlassen ihre Chefs. Wenig Führung, keine Perspektiven und hoher Leistungsdruck – jeder vierte Arbeitnehmer hat innerlich gekündigt und würde gerne den Arbeitsplatz wechseln. Ich unterstelle, für sehr viele Mitarbeiter ist der Chef oder auch die unmittelbare Führungskraft, die wichtigste Person im Berufsleben. Wegen ihr bleibt man und wegen ihr geht man.
Was sind die Gründe?
Ein überholtes Führungsbild geht davon aus, dass Vorgesetzte dazu da sind, auf alle Fragen eine Antwort zu haben und die Verantwortung zu tragen, indem sie allein die Entscheidungen treffen. Es gibt es für mich nichts Schlimmeres als Führungskräfte, die andere belehren wollen und Konflikte scheuen anstatt den Dialog auf Augenhöhe zu suchen. Viele Führungskräfte ignorieren die Bedürfnisse und Erwartungen ihrer Mitarbeiter. Mitarbeiter, die keine emotionale Bindung ans Unternehmen haben und sich nicht mit der Firma identifizieren, fällt es dann schwer Eigeninitiative und Leistungsbereitschaft einzusetzen.
Je größer und komplexer die zu organisierenden Bereiche sind, desto emanzipierter müssen, Mitarbeiter sein um die Prozesse im Unternehmen am Laufen zu halten. Starre Strukturen bzw. klassische Hierarchien verlangen einerseits Gehorsamkeit und Loyalität, andererseits Selbstständigkeit und Entscheidungsfreudigkeit. Der Mensch kann aufgrund seines reflexiven Charakters der Emanzipation nicht immer gerade dort selbstständig sein, wo das Unternehmen es verlangt, in allen anderen übrigen Bereichen aber abhängig und weisungsgebunden. Das bedarf grundlegend einem Umdenken in den Unternehmen.
Was können die Unternehmen tun?
In eingefahrenen starren Strukturen können sich weder Initiative, Kreativität noch Verantwortungsbewusstsein des Mitarbeiters entwickeln. Nicht der Chef ist die beste Führungskraft bzw. nicht der oben ist, ist immer vorne, sondern derjenige, der interessante Fragen hervorruft. Jeder Chef, jede Führungskraft hat zunächst nur eine Person zu führen, sich selbst. Als Vorgesetzter gibt man mit seinem Verhalten und seiner Einstellung Orientierung, ob man will oder nicht. Umso wichtiger ist es, sich seiner selbst bewusst zu sein, Verantwortung für sein Denken, Fühlen und Handeln zu übernehmen, Vereinbarungen einzuhalten, Störungen anzusprechen und immer wieder die eigenen Grenzen zu überprüfen.
„Nur wer sich selbst führen kann, ist auch in der Lage Mitarbeiter zu führen“ – Anja Häßler
Zudem findet die unternehmerische Wertschöpfung immer genau dann statt, wenn Menschen miteinander in Interaktion treten. Die besten Lösungen entstehen, wenn Mitarbeiter zusammenarbeiten. Und es braucht einen Vorgesetzten, der das Ziel und die wichtigsten Methoden kennt, die notwendig sind, um dieses Ziel zu erreichen. Er kennt zudem als Einziger die Mitarbeiter im Team und ist in der Lage ihre Wünsche und Meinungen zu koordinieren.
Das Unternehmen ist Treibhaus zur persönlichen Entfaltung, oder als Metapher gesagt, ist eine gute Führungskraft für mich wie ein guter Gärtner, der für sein Saatgut optimale Bedingungen schafft, damit sich Mitarbeiter gut entwickeln können. Dazu sind natürlich auch die Mitarbeiter gefragt.
Inwiefern?
Menschen neigen zur Gemeinschaft. Wenn ein Team und jeder einzeln heutzutage in der Lage ist, offen mit Fragen umzugehen, werden automatisch gute Lösungen gefördert, die auch alle bereit sind, zu tragen. Dazu müssen Führungskräfte erarbeiten, welche Kompetenzen überhaupt im Team benötigt werden und wie diese Kompetenzen so aufgebaut werden können, dass sie dort verfügbar sind, wo sie benötigt werden.
Und genau hier liegt ein Knackpunkt. Kompetenzerwerb funktioniert nicht für jeden gleich. Der Mitarbeiter muss natürlich auch bereit sein, Neues zu entdecken und zu lernen. Nicht jeder startet von der gleichen Ausgangsbasis und in der gleichen Geschwindigkeit. Nicht jeder Mitarbeiter hat die gleichen Überzeugungen und Werte.
Was, wenn ein Mitarbeiter diese Bereitschaft nicht aufbringt?
Chefs und Vorgesetzte sollten sicherstellen, dass neues Wissen entstehen kann, das neue Verhaltensweisen und Prozesse auch mehrfach ausgeführt werden dürfen, eigene Erfahrungen, auch Fehler und Rückschläge, damit gemacht werden dürfen. Nötige Voraussetzungen müssen geschaffen werden sowie Sinn und Nutzen sollten verstanden sein, damit die Mitarbeiter die Veränderungen mittragen.
Fehlen diese Rahmenbedingungen, kann die geforderte Anpassungsleistung von Mitarbeitern sehr hoch werden. Die Veränderungen misslingen mit all den bekannten negativen Konsequenzen.
Gibt es Beispiele für Unternehmen im Unstrut-Hainich-Kreis, bei denen das gut läuft?
Ja, ich erlebe den erfolgreichen Beweis in meiner täglichen Arbeit in den Teams und Coachings mit den Führungskräften. Ganz gleich ob größere oder kleinere Unternehmen, die Themen innerhalb der Führung und in den Teams sind ähnlich. Eine sehr erfolgreiche und nachhaltige Führungs- und Kommunikationskultur lebt beispielsweise das WPZ Wohn- und Pflegezentrum Unstrut-Hainich mit 130 Mitarbeitern oder auch ein kleineres Unternehmen, wie die Schuh Tasch Orthopädieschuhtechnik mit 20 Mitarbeitern in Mühlhausen.
Was machen die besser, als andere Unternehmen?
Wichtig ist es, Vorbild zu sein, dazu eine Atmosphäre von Respekt, Vertrauen und Wertschätzung zu schaffen. Dann entwickeln Mitarbeiter auch selbstständig Lösungen. Dazu haben wir gemeinsam mit den Teams und den Vorgesetzten aus beiden Unternehmen eine Führungs- und Konfliktkultur erarbeitet. Hierzu wurden Teamtrainings zur Gestaltung der Kommunikation und Zusammenarbeit umgesetzt sowie eine Führungswerkstatt implementiert. In regelmäßigen Abständen reflektieren und optimieren die Führungskräfte ihre Gesprächsführungsmethoden, bereiten und trainieren schwierige Entscheidungsgespräche vor. Entscheidend sind hierbei die richtigen Rahmenbedingungen zu schaffen. Es darf weder Druck noch Angst herrschen. Außerdem ist Fehlertoleranz nötig, um sich wirklich zu weiterzuentwickeln.
Vor 20 Jahren lief die deutsche Wirtschaft auch gut. Warum jetzt dieser Wandel?
Die wachsende Komplexität, der zunehmende Leistungsdruck und die Geschwindigkeit in der heutigen Arbeitswelt sind nur wenige Gründe für den Wandel. Es ist sehr viel los, in den Unternehmen gibt es dauernd große Veränderungen. Der Markt ist deutlich transparenter geworden. Digitalisierung schreitet voran und es gibt für alle zahlreiche zugängliche Informationen. Viele Tätigkeiten, die früher von gut ausgebildeten Mitarbeitern ausgeführt wurden, übernehmen nun Maschinen. Das führt aber auch zu einem Wandel in den Köpfen. Der Prozess der Emanzipation beschleunigt sich. In immer mehr Bereichen erreichen die Menschen ein eigenes Urteilsvermögen und damit die Möglichkeit, selbst Entscheidungen zu treffen und Ansprüche zu erheben.
Nehmen wir mal das klassische Bild eines Verkäufers. Früher gab es ein Angebot auf einen Zettel. Heute hat der Kunde ganz klare Vorstellungen in der Ansprache und auch Kundenbetreuung. Er fordert beispielsweise ständige Erreichbarkeit, ist kritisch und kommt oftmals informierter in die Firma als sich Verkäufer vorstellen können und genau daran misst der Kunde von heute die Unternehmen daran, wie professionell diese arbeiten. Bedeutet nicht zuletzt, dass sich auch Mitarbeiter dem entsprechend qualifizieren müssen, um den wachsenden Kundenansprüchen gerecht zu werden.
Die Digitalisierung und Automatisierung in der Wirtschaft setzt also Arbeitskräfte frei. Bei entsprechender Weiterbildung des Personals könnten dadurch Lücken bei den Fachkräften gefüllt werden?
Wenn es um Weiterentwicklung geht, dann geht es nicht ausschließlich nur um Fachwissen, sondern immer auch um die eigene Persönlichkeitsentwicklung und Selbstreflektion. Entscheidend ist, die persönliche Team- und Kommunikationsfähigkeit, wie sich Konflikte lösen lassen und die Fähigkeit sich in anderen Menschen hineinzuversetzen sowie situationsangemessen zu handeln. Zentrierung, Orientierung und Integrierung sind für mich die bestimmenden Merkmale für Führungspersönlichkeiten. Sie wirken auch auf die Grundbedürfnisse von Mitarbeitern und Organisationen. Diese sind oftmals der Schlüssel für erfolgreiche Unternehmen.
Alexander Volkmann / 17.05.18